Was soll eine Armee tun, die unser Land nicht mehr verteidigen kann und muss?

Otmar Steinbicker, Aachener Nachrichten, 19.07.2013, Quelle

1648, nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, geschah Ungeheuerliches! Die Stadtmauern, die zuvor als unabdingbare Voraussetzung von Sicherheit dienten, wurden eingerissen.

Was war geschehen? Im Verlauf dieses schrecklichen Krieges zeigte sich, dass Stadtmauern keinen Schutz mehr boten. Sicherheit musste anders, nicht mehr vordringlich militärisch, gewährleistet werden. Der Westfälische Frieden zeigte die realistische Perspektive von Verhandlungen. Noch immer gilt die Erkenntnis von 1648 als Grundsatz jeder Konfliktlösung: „Audiatur et altera pars“ – „Man höre auch die andere Seite“.

Der historische Blick hat einen aktuellen Bezug, steckt doch die Bundeswehr in der tiefsten Sinnkrise ihrer Geschichte! Trägt sie noch zur Sicherheit bei oder ist sie längst ein Relikt wie 1648 die Stadtmauern?

Befürworter der Bundeswehr tun sich derzeit in der Argumentation schwer. Landesverteidigung? Bis zum Ende des Kalten Krieges gab es den Konsens, dass es dafür eine Armee geben müsse. Schließlich standen jenseits der Elbe Millionen Soldaten und tausende Panzer. Das galt für den Blick von West nach Ost und auch umgekehrt. Jenseits der Elbe stand der Feind und gegen den musste man gerüstet sein.

Seit über 20 Jahren ist dieses Szenario Geschichte. Deutschland wird von keinem Nachbarn mehr bedroht und es bedroht auch keinen Nachbarn. Die Bundeswehr wurde daher deutlich verkleinert und umgerüstet. Für ein Kriegsszenario zur Landesverteidigung wäre sie längst nicht mehr einsatzfähig! Ernsthafte Sorgen gibt es deshalb weder bei der Regierung noch bei der Opposition. Dennoch plädiert keine Bundestagspartei für die Abschaffung der Bundeswehr.

Doch was soll eine Armee tun, die unser Land nicht mehr verteidigen kann und muss? Eine Möglichkeit wurde in den letzten Jahren erprobt: Man suchte Einsatzorte außerhalb der Nachbarstaaten. „Unsere Freiheit wird auch am Hindukusch verteidigt“, hieß es.

Die Bilanz des Aghanistankrieges ist niederschmetternd. Nach elf Jahren erfolgloser Kriegführung ist Abzug angesagt. Eine Friedenslösung ist nicht in Sicht, stattdessen droht eine weitere Bürgerkriegsrunde mit ungewissem Ausgang.

Die Kriege der Verbündeten in Irak und Libyen waren ebenso desaströs. Kein Wunder, dass jüngst hohe britische Militärs ihrer Regierung rieten, keine Waffen an syrische Rebellen zu liefern, um nicht das Land in einen weiteren, nicht zu gewinnenden Krieg hineinzuziehen. Nur noch hartgesottene Militaristen träumen von Landesverteidigung und Kriegseinsatz der Bundeswehr etwa bei Völkermordvorwürfen.

Kriege dieser Art können nicht gewonnen werden. Die ihnen zugrunde liegenden Konflikte können nur politisch gelöst werden. Die Verhandlungsmaxime des Westfälischen Friedens, auch die andere Seite zu hören, hat dabei eine unerhörte Aktualität!

Wer heute Sicherheitspolitik gestalten will, der muss Sicherheit prinzipiell neu definieren und mögliche Bedrohungen realistisch analysieren. Terrorismus ist da sicherlich ebenso ein Thema wie Datenspionage. Doch im einen wie im anderen Fall helfen weder klassische Armeeformationen noch Bomben oder Panzer! Auch gegenüber ökologischen Problemen müssen Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden. Die jüngste Elbeflut zeigt ansatzweise diese Problematik.

Einige Befürworter definieren seither den Sinn der Bundeswehr über deren Einsatz als Deichhelfer. Doch wer Sicherheit gegen Flutgefahren sucht, der sollte eher für die Auflösung der Bundeswehr und die Eingliederung der ehemaligen Soldaten ins Technische Hilfswerk (THW) plädieren. Dort würde sowohl eine andere Ausbildung als auch eine andere Ausrüstung benötigt. Für ein in Katastrophenfällen leistungsfähiges THW gäbe es weltweit sinnvolle Einsatzmöglichkeiten.

Die Szenarien des Kalten Krieges taugen für die Sicherheitsdebatte des 21. Jahrhunderts nicht mehr. Wenn nicht bald stichhaltige Gründe für die Existenz der Bundeswehr gefunden werden, dann muss über ihre Abschaffung nachgedacht werden – genauso ernsthaft wie nach 1648 über den Abriss der Stadtmauern.

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier