Die Geschichte des Militärseelsorgevertrages

Vortrag von Hanna-E. Fetköter am 22. September 2012 in Halle/Saale [Zum selben Thema siehe auch Dörfler-Dierken]

Im Jahre 1957 wurde der Militärseelsorgevertrag zwischen der BRD und der EKD geschlossen. Es war der erste Staats-Kirchenvertrag nach 1945. Er hatte einen mehrjährigen Vorlauf.

Überlebende aus Politik und Militär dachten nach dem verlorenen Weltkrieg nicht an eine Zukunft ohne Armee. Sie planten einen stärkeren Einfluss auf die Soldaten mit Hilfe der „Inneren Führung“. Sie hatten das Ziel: eine ehrenvolle Truppe nachhaltig gut aufzustellen.

Das Konzept der „Inneren Führung“ - maßgeblich und hartnäckig gefördert von Wolf Graf von Baudissin - beinhaltet nicht nur militärfachliche Ausbildung und politischen Unterricht, sondern eine Führung mit ethischer Grundlage, das meint: gewissensgeleitete Individuen, verantwortlicher Gehorsam, konflikt- und friedensfähige Mitmenschlichkeit.

Dafür sollten Militärpfarrer und -pfarrerinnen gewonnen werden, denen neben Gottesdienst und Seelsorge auch der „Lebenskundliche Unterricht“ anvertraut wurde. Er sei kein Religionsunterricht, sondern Teil der Gesamterziehung der Soldaten. (General Schneiderhahn brachte es 2003 auf den Punkt: „das Prinzip der Inneren Führung sollte es auch religiös gebundenen Menschen ermöglichen Soldat zu werden und zu sein.“)

Dass eine Militärseelsorge nötig sein würde, stand bei den politisch Verantwortlichen von Anbeginn fest. Das Grundgesetz der BRD hatte den Artikel 141 aus der Weimarer Verfassung als Artikel 140 übernommen. Dieser Artikel verpflichtet den Staat, Religionsgesellschaften zuzulassen, soweit in den besonderen Gewaltverhältnissen das Bedürfnis nach Gottesdienst und Seelsorge besteht.

Im Oktober 1950 trafen sich im Auftrag von Konrad Adenauer hochrangige Soldaten, um geheim über Grundsätze für die Aufstellung deutscher Truppen im Rahmen einer europäischen Verteidigungsarmee und auch über die Einrichtung einer Militärseelsorge zu beraten.

Die Evangelische Kirche ist nachweislich seit 1950 mit der Frage der Wiederbewaffnung und der Seelsorge an Soldaten beschäftigt. Männer wie Hermann Kunst und Hanns Lilje und deren Briefe bezeugen dies.

Ausgehandelt wurden (1951) folgende Bedingungen:
- keine Uniform für die Pfarrer und Pfarrerinnen.
- Besoldung durch die Landeskirchen.

Ergänzt 1952 um folgende Grundsätze:
- Zeitbeschränkung des Dienstes der Geistlichen;
- Landeskirchliche Anbindung;
- Dienstaufsicht durch von den Kirchen vorgeschlagene, von der Bundesregierung auf Lebenszeit berufene Geistliche;
- Verzahnung der Leitung der Militärseelsorge mit der Leitung der EKD.

Im Jahre 1952 beschließt der Rat der EKD, den Aufbau einer Militärseelsorge durch einen Vertrag zwischen dem Staat und der Evangelischen Kirche zu regeln.

Auch das Einvernehmen mit den Vertretern der katholischen Kirche war bereits hergestellt, bevor der Deutsche Bundestag mit dem Thema "Aufstellung von Streitkräften" offiziell befasst wurde.

Ich empfehle Ihnen, gerade für die jahrelange Vorgeschichte zum Vertrag, die Lektüre des ausführlichen Forschungsberichtes Nummer 83 von Angelika Dörfler-Dierken vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr von 2008.

Im Militärseelsorgevertrag wird folgendes geregelt:

  • Die Militärseelsorge wird als Teil kirchlicher Arbeit im Auftrag und unter der Aufsicht der Kirche ausgeübt.
  • Der Staat sorgt für den organisatorischen Aufbau der Militärseelsorge und trägt ihre Kosten (!).
  • Die Militärseelsorge wird von Geistlichen ausgeübt, die mit dieser Aufgabe hauptamtlich beauftragt sind.
  • Für je 1.500 evangelische Soldaten wird 1 Pfarrer berufen.
  • Auch die Regelungen für die sogenannten Militärgeistlichen im Nebenamt sind erwähnt. (Es folgen die Artikel über die Aufgaben der Geistlichen; sie sind angelehnt an das Grundgesetz der BRD und an das Soldatengesetz. Der Militärbischof wird erst nach Absprache mit der Bundesregierung vom Rat der EKD ernannt. Das evangelische Kirchenamt der Bundeswehr wird im Verteidigungsministerium eingerichtet und ist dem Verteidigungsminister unmittelbar nachgeordnet. Das umstrittene Beamtenverhältnis wird in Abschnitt V beschrieben.)

Für die Weiterarbeit mit dem Ziel „Abschaffung der Militärseelsorge" muss unbedingt auch der Artikel 27 des Militärseelsorgevertrages bedacht werden. Er ist die sogenannte „Freundschaftsklausel“, nach der nur einvernehmliche Kündigungen und Veränderungen des Vertrages möglich sind.

Es gibt zahlreiche Dokumentationen über den Militärseelsorgevertrag. Ich habe meine Angaben aus den EKD-Informationen „Militärseelsorge IV“ 2001 und aus dem Heft vom Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr.

Insgesamt umfasst der Vertrag 28 Artikel. Er wurde ratifiziert und ausgetauscht, dazu trafen sich am 22.02.1957 für den Staat Konrad Adenauer und Franz Joseph Strauss, für die Kirche der Ratsvorsitzende Otto Dibelius und der Leiter der Kirchenkanzlei Oberkirchenrat Brunotte.

1. Skandal: Die Ratifizierung geschah ein Monat vor der EKD-Synode.

2. Skandal: kein einziger Artikel behandelt den Lebenskundlichen Unterricht, obwohl über 50 % der Arbeitszeit eines Militärseelsorgers auf ihn verwendet werden. Er ist bis heute nicht Bestandteil des Vertrages. Er wurde erst 1959 in einer „Zentralen Dienstvorschrift (ZDv 66,2)“ fixiert. Im „Lebenskundlichen Unterricht“, heißt es dort, werden „sittliche Fragen behandelt, dem Soldaten Hilfen für sein tägliches Leben gegeben, und ein Beitrag zur Förderung der sittlichen, geistigen, und seelischen Kräfte des Soldaten geleistet, die mehr noch als fachliches Können den Wert des Soldaten bestimmen.“

Mit dem Kirchenbund der DDR wurde kein Vertrag abgeschlossen. Das andere politische System mit einer antikirchlichen Obrigkeit machten es unmöglich. Bekannt wurde trotzdem, besonders in der Zeit des wachsenden Dialogs zwischen der Friedensbewegung in Ost und West (ich denke an den „Konziliaren Prozess“, an die Ökumenischen Versammlungen in Dresden, Magdeburg und Dresden), wie die Menschen an der Basis theologisch bewusst und selbstbewusst das Militär, die das Militär stützende Politik, eine „neue“ Wehrmacht, die Aufrüstung und die Auslandseinsätze, und vor allem einen Vertrag zwischen Kirche und Staat ablehnten.

Die zunehmende Militarisierung forderte auch im Westen Pastoren und kritische Kirchenmitglieder heraus, öffentlich zur Kriegsdienstverweigerung aufzurufen. Das ermutigte auch resignierende Frauen und Männer in und außerhalb der Kirche, sich einzumischen. Die kontroversen Diskussionen hatten zum Teil sogar dienstrechtliche Abmahnungen zur Folge. Es brodelte…

Besonders die Auslandseinsätze konnten in einer Bevölkerung, die mehrheitlich nach dem Ende des zweiten Weltkrieges „Nie wieder Krieg!“ gerufen hatte, nicht ohne Widerspruch bleiben. Auch auf den Kirchentagen wurde der Protest hörbar und sichtbar. Dass der Protest nicht unbegründet war, beweisen Zeugnisse von Militärpfarrern. (Ich zitiere hier Manfred Kahl, der während des Golf-Krieges in Erlac ängstliche Soldaten zum Durchhalten motivierte: „So hat sich unsere Präsens für die Soldaten in Erlac als unverzichtbar herausgestellt. Das System der Militärseelsorge, wie es durch den Militärseelsorge Vertrag festgelegt ist, hat sich bewährt. Die dort diensttuenden Soldaten wären arm dran gewesen, wenn die Kirchen in den neuen Bundesländern sich mit ihren Vorstellungen über die Militärseelsorge durchsetzen würden….Der Dienst, den ich und mein Pfarrhelfer wahrgenommen haben, war gleichermaßen erforderlich, notwendig, wichtig und sinnvoll. Wir haben in Erlac eine Schlacht für die Militärseelsorge geschlagen…Hätte die Militärseelsorge versagt, wäre der Schaden bei den Soldaten irreparabel gewesen.“ (Frankfurter Rundschau vom 27.01.1992).

In meiner Friedensgruppe in einer Hamburger Kirchengemeinde hörten wir ergriffen vom Tonband die letzte Rede von Gustav Heinemann, die er im Deutschen Bundestag hielt, bevor er seinen Posten als Innenminister in der Regierung von Konrad Adenauer wegen der Wiederbewaffnung abgab. Wir wollten nicht glauben, dass die Kirche sich in der Frage: ja oder nein zum Krieg spalten ließ.

Im Jahre 1989 kam die Wiedervereinigung.

Die erforderliche Neuregelung der Militärseelsorge führte zu einer mehrjährigen Debatte in der evangelischen Kirche. Die ostdeutschen Landeskirchen sahen die zu große Staatsnähe im Vertrag. Auch viele Synodale aus dem Westen stimmten auf der EKD-Synode 1994 in Halle dem Beschluss zu, dass die Landeskirchen jeweils selbst entscheiden, ob kirchliche oder staatliche Dienstverhältnisse für die Seelsorger in der Bundeswehr abgeschlossen werden.

Die damalige Regierung unter Helmut Kohl weigerte sich, den Militärseelsorgevertrag zu ändern, da er eine optimale seelsorgerliche Betreuung der Soldaten in der Bundeswehr gewährleiste. Sie verlangte eine einvernehmliche Regelung und Gleichbehandlung evangelischer und katholischer Christen. Die Regierung bot im Jahre 1996 weitere Gespräche an. Das Ergebnis war eine ausschließlich für die neuen Bundesländer gültige und auf drei Jahre befristete Rahmenvereinbarung.

Im folgenden wurde versucht, die Pfarrer und Pfarrerinnen der Ostkirchen weiter zu beeinflussen. Pfarrer und Pfarrerinnen wünschten sich eigentlich eine deutliche Wiederbelebung des friedensethischen Diskurses. Das Problem der doppelten Loyalität bestand zwar weiterhin, aber das erhöhte Gehalt, die Privilegien, wie Pfarramtshelfer, Wagen und Chauffeur gewannen die Oberhand.

Allen Bedenken wurde kurzerhand ein Ende gesetzt, indem die EKD auf ihrer November-Synode 2001 in Amberg folgenden Beschluss fasste: “Die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland“.

Außerdem ging eine ergänzende Verwaltungsvereinbarung über den Tisch, dass Militärpfarrer und Pfarrerinnen als Bundesbeamte auf Zeit oder als Angestellte tätig sein können. Die Kritik der östlichen Landeskirchen an dem Status der Pfarrer als Bundesbeamte spielte keine Rolle mehr. Und weder der Staat noch die Kirche wollten eine Verlängerung der Rahmenvereinbarung.

Auf der EKD-Synode 2002 in Timmendorfer Strand hieß der Beschluss: Die evangelische Seelsorge in der Bundeswehr ist eine Gemeinschaftsaufgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland und der in ihr verbundenen Gliedkirchen. Das war nicht nur eine Änderung der Grundordnung, sondern auch eine Änderung des Vertrages von 1957, wo es heißt: „Die Militärseelsorge bildet einen Teil der den Gliedkirchen obliegenden allgemeinen Seelsorge“. Auf der Synode in Timmendorfer Strand zählte ich von der Empore aus mit zunehmendem Entsetzen die Neinstimmen: es waren nur noch acht - und acht Enthaltungen. Die große Mehrheit, einschließlich der Vertreter aus den östlichen Gliedkirchen, stimmte für die Änderung der Grundordnung. Die Chance, eine staatlich unabhängige Seelsorge an Soldaten zu schaffen, war verpasst.

Auch für den Dietrich-Bonhoeffer-Verein (dbv) war die Enttäuschung groß. Bereits über mehrere Jahre informierte der dbv sich und die Öffentlichkeit mit Seminaren und Versammlungen über den Militärseelsorge-Vertrag und die politischen und kirchlichen Diskussionen. Die Ergebnisse sind dokumentiert in der „Verantwortung“ von Heft Nr.11 bis Nr.18 . Die Petition des dbv von 2002 an die Mitglieder des deutschen Bundestages, mit der Forderung, den Beschlussvorschlag, „den Militärseelsorge Vertrag anzuerkennen und zu würdigen“, abzulehnen, ist in Heft Nummer 30 nachzulesen. Der dbv pflegte eine intensive Zusammenarbeit mit dem Reformierten Bund.

Außerdem entstand eine extra Arbeitsgruppe, die sich um die unverzichtbare theologische Aufarbeitung einer Seelsorge für Soldaten bemühte. Sie setzt inzwischen diese Arbeit im Versöhnungsbund fort und nennt sich Arbeitskreis „Friedensauftrag und Militär“.

Die Synopse, die der dbv mit dem Sachverstand der Juristen Werner Deisenroth und Jan Niemöller ausarbeitete, wurde in den Kirchenämtern und Kirchenleitungen zur Seite gelegt und nicht an die Synoden weitergegeben.

Dabei war sie eine beispiellose Hilfe für die Auseinandersetzung mit den vom Ausschuss des EKD-Rates vorgelegten zwei Denkmodellen für die zukünftige Gestaltung der Militärseelsorge:

Modell A bedeutete ohne Veränderungen; Modell B: mit Einschluss von Änderungen, die den Beamtenstatus der Militärgeistlichen und die Leitungsstruktur berührten. Der dbv stellte in der Synopse seine erarbeiteten Kritikpunkte daneben als eine Art Modell C. Das Ergebnis der Umfrage unter allen Landeskirchen ergab eine Mehrheit für das Modell B. Mit der Stimme des Rates für B ging dieses Votum in die EKD-Synode von Halle 1994. Der 1957 geschlossene Militärseelsorge-Vertrag galt ab da für alle Gliedkirchen der Evangelischen Kirche Deutschlands. Im Juni 2001 endeten die Rahmenvereinbarungen.

Mir bleibt noch die Mahnung: Erinnern wir uns an die Friedensbewegung, und an die Friedenskirchen der DDR! Zum Beispiel an Pfarrer Christian Führer aus Leipzig, der heute die Christen zur Absage an den Kapitalismus aufruft.

Ich will mit einem Satz von Hans-Dieter Zepf schließen, den er zum 50. Jahrestag des Militärseelsorgevertrages 2007 in Berlin verkündigte: „Wir müssen Kraft gewinnen, um immer wieder aufzustehen und zu widerstehen gegen eine Politik in Kirche und Staat, die dem Friedensgebot Gottes zuwiderläuft.“

Hanna-E.Fetköter, September 2012